
Schlusswort
Ein Urlaub am anderen Ende Europas, der nicht stattfinden konnte, eine Konzertreise, die ausfallen musste, die Sehnsucht nach dem Onkel oder der Tante in der „zweiten Heimat“: Die allermeisten der 49 Beiträge, die beim Wettbewerb #Kleine Schritte der Europäischen Kommission eingegangen waren, hatten ein Thema: die Einschränkung der Reisemöglichkeiten in Zeiten der Pandemie.
Aber nicht nur als Verlust an Freiheit wurde dieses Herunterbremsen der Mobilität in Europa empfunden, sondern auch als Möglichkeitsraum. Als erzwungene Chance, darüber nachzudenken, wie wir leben, was wir an diesem Leben ändern wollen, wie wichtig Mitmenschlichkeit und Solidarität sind.
Ist die Sehnsucht nach dem „andern“ und die Reflexion darüber, was dieses „andere“ bedeutet, weiblich? Nur 12 der 49 Beiträge kamen von Autoren. Sie aber wurden zumeist von den gleichen Themen umgetrieben wie die 37 Autorinnen. Insgesamt stammten 18 Beiträge von Autorinnen und Autoren, die noch nicht volljährig waren. Aus ihren Texten ging hervor, wie wichtig Schule ist, nicht nur als Lernort, sondern auch als sozialer Raum. Reisen, das klang nicht selten an, mag Luxus sein, Schule dagegen muss selbstverständlich sein. Auf den Präsenzunterricht zu verzichten, auf das Treffen mit Freundinnen und Freunden und den Austausch auf dem Pausenhof, ist deshalb ein härterer Einschnitt als der Verzicht auf die Urlaubsreise oder den Verwandtenbesuch in Polen, Italien oder Kroatien.
Aus all den Beiträgen die drei besten herauszufinden, war nicht einfach. Auf jeden Fall aber stehen die drei Texte der Siegerinnen für die Vielfalt der eingereichten Beiträge. Das betrifft sowohl die Themen als auch ihre literarische Umsetzung. Das Team der #Kleinen Schritte möchte sich an dieser Stelle noch einmal bei allen bedanken, die zum Gelingen dieses Wettbewerbs beigetragen haben.
Passt auf Euch auf! Bleibt kreativ! Kommt gesund ins neue Jahr und schaut gelegentlich in Eure Texte, wenn Euch der „normale“ Alltag wieder hat.
Uwe Rada
Die Gewinnerinnen
Hauptgewinne:
Gewinnerworkshop Schreibaufgabe:

Meine Bundesstraße

Meine Straße

Nachts und die Schritte auf der Straße

Straße
Auszeichnungen:

Ich vermisse nichts

Der weiße Sand am Strand

Lieber Papa,

Dänemark, Nordsee.

Saudade

Kleine Schritte

Ferne

Allein nach Dublin

Hunger und Hunger

Ungeteiltes Europa
Wonach sehnst du dich?
Und plötzlich waren die Grenzen geschlossen. Die Pandemie hatte die Welt angehalten, und die Länder in Europa schauten nur noch auf sich selbst. An der deutsch-polnischen Grenze winkte im April eine Lehrerin ihrem Schüler zu, weil sie nicht mehr von der einen Seite auf die andere zum Unterrichten durfte. Gerade in den Grenzregionen Der Europäischen Union zeigte sich, wie sehr eine offene Grenze bereits zum europäischen Alltag geworden war. Und das sollte plötzlich vorbei sein?
Die polnische Lehrerin sehnte sich danach, wieder in ihrer deutschen Schule zu unterrichten. Der Junge sehnte sich nach dem Unterricht bei seiner Lehrerin. Eine polnische Studentin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) sehnte sich danach, ihre Eltern in Słubice wieder besuchen zu können. Liebende, die von der Grenzschließung überrascht wurden, sehnten sich nach einem Wiedersehen, weil ein Rendezvous bei Skype etwas anderes ist als ein zarter Kuss. Und viele dachten und denken in der Zeit der Pandemie, wie es wohl denen gehen mag, die sie beim Studium oder bei einer Reise in Danzig oder Prag, Paris oder Madrid kennengelernt haben.
Wonach sehnt Ihr Euch? Nach wem oder nach was? Und warum sehnt Ihr Euch? Was fehlt Euch, wenn Ihr die Person, nach der Ihr Euch sehnt, nicht sehen könnt? Schreibt es auf. Schreibt über Eure Sehnsucht und gebt ihr ein Gesicht. Mit einem Foto. Mit einem Text, der nicht länger als 2.000 Zeichen inklusive Leerzeichen sein darf.
Schreibt es auf als literarische Reportage. Schreibt über Euch und Eure Sehnsucht an einem konkreten Beispiel. Beschreibt, was Euch an der Person fehlt. Stellt Euch schreibend vor, worüber Ihr reden würdet, wohin Ihr gehen würdet, wie sich das Wiedersehen anfühlen würde. Scheut nicht zurück vor Ich und Du. Und verratet uns, in welcher Sprache Ihr Euch unterhalte würdet. Denn Europa, das ist nicht nur das Europa der offenen Grenzen, die so plötzlich geschlossen wurden. Es ist auch das Europa der Vielfalt und der vielen Sprachen.
Die Lehrerin und ihre Schülerin und dazwischen die Grenze: Ich habe nicht hören können, was sie sich gesagt haben. Vielleicht haben sie sich auch nur zugewunken. Es war ein Foto in der Zeitung. Aber Eure Geschichten, die werde ich kennenlernen. Ich freue mich auf Eure Texte und Fotos.
Uwe Rada
Über Uwe Rada
Uwe Rada“, schreibt der österreichische Publizist und Schriftsteller Karl-Markus Gauß, „hat die phänomenale Fähigkeit, komplizierte historische Zusammenhänge und geografische Gegebenheiten so leichthin aufzubereiten, dass man gar nicht merkt, wieviel an Informationen man geschluckt hat und ein bisschen gescheiter geworden ist.“ Gauß Lob galt damals einem Buch, das Rada über das Adriatische Meer geschrieben hat. Es war Kulturgeschichte und Reisebericht zugleich, literarische Reportage und Essay. Vor allem aber war Radas Buch der Versuch, die Adria nicht nur aus einem nur deutschen Blickwinkel zu beschreiben, sondern aus vielen verschiedenen, denn nur in der Gesamtschau wird aus einem Meer, an dessen Ufern sechs Länder liegen, ein europäisches Meer. Reisen über die Grenzen hinweg ist die Voraussetzung, die eigene Welt auch mit fremden Augen zu sehen.
Diese Überzeugung begleitet Radas essayistisches und schriftstellerisches Werk von Anfang an. Als der 1963 in Göppingen geborene Rada 1983 nach West-Berlin zieht und dort 1989 den Fall der Mauer und das Ende der Teilung Europas erlebt, macht er sich bald auf in Richtung Osten, erkundete in seinen Büchern später dann die deutsch-polnische Grenze oder die baltischen Länder. In seinen Büchern über die Oder, die Memel und die Elbe beschreibt er, dass die großen, grenzüberschreitenden Flüsse in Europa andere Geschichten erzählen als die der Nationalstaaten, durch die sie fließen. Nach dem Erfolg dieser Bücher kuratierte Rada das Onlineportal Geschichte im Fluss der Bundeszentrale für politische Bildung, in dem mehr nahezu 100 Autorinnen und Autoren aus fast 20 Ländern in einen Dialog über die Flüsse Europas treten.
Das ist die Vogelperspektive auf Europa, der Rada zwanzig Jahre lang als Autor treu geblieben ist. Was aber ist Europa im konkreten? Und was sind seine Regionen? Wie begegnen sich seine Menschen? 2017 ging Rada ein Wagnis ein und veröffentlichte seinen ersten Roman. „1988“ ist die Geschichte von Jan und Wiola, einer amour fou zwischen Berlin-Kreuzberg und Krakau in Zeiten des Kalten Krieges. Das Große in kleinen Geschichten erzählen: Diesem Motto bleibt Rada seitdem treu. Im Dezember erscheint im Bebra-Verlag sein Buch „Siehdichum. Annäherungen an eine Landschaft“. In diesem Porträt der an Polen grenzenden Region zwischen Spree und Oder erzählt Rada vom Verhältnis zwischen Geschichte und Landschaft, Provinz und Metropole, Mensch und Wald.
Denn auch das ist ein europäischer Dialog: Sich mit der Geschichte eines Ortes und einer Region vertraut machen und sie – über die Grenzen der Zeit hinweg – zum Sprechen bringen. Oder wie es das Deutschlandradio Kultur einmal zum Werk von Rada angemerkt hat: „Uwe Rada versteht es, vergessene Geschichte wieder zum Leben zu erwecken.“
www.uwe-rada.de
Preise
Hauptpreise (Plätze 1-3)
Die Preise für die Gewinner des Wettbewerbs sind drei Plätze für einen eintägigen Workshop unter der Leitung von Uwe Rada und sein neuestes Buch mit dem Titel „Siehdichum. Annäherungen an eine brandenburgische Landschaft“.
Auszeichnungen (Plätze 4-13)
Außerdem werden zehn weitere Auszeichnungen verliehen. Die Autoren der ausgezeichneten Werke erhalten ein Buch von Uwe Rada mit dem Titel „Siehdichum. Annäherungen an eine brandenburgische Landschaft“.
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